"Ohne wirksame Antibiotika gehen die Errungenschaften der modernen Medizin wieder verloren"

Interview mit Christoph Dehio, Mikrobiologe

Humanmediziner, Veterinäre und Umweltwissenschaftler sollen zur Bekämpfung von Antibiotika-Resistenzen enger zusammenarbeiten, sagt Christoph Dehio.

​Das Problem der antibiotikaresistenten Bakterien ist in aller Munde. Kennen Sie persönlich jemanden, der tatsächlich daran leidet?

Fast jeder kennt jemanden in seinem Umfeld, der nach einer erfolgreichen Operation auf erhebliche Nachsorge angewiesen war, weil sich ein Keim in der Wunde festgesetzt und eine Infektion ausgelöst hat. Die Medien sind voll an tragischen Fällen, bei denen jemand an einer Infektion mit einem gegen ein breites Spektrum von Antibiotika resistenten Erreger starb. Solch schwerwiegende Verläufe treffen insbesondere Menschen mit geschwächtem Immunsystem – zum Beispiel auf der Intensivstation. Infektionen mit Antibiotika-resistenten Keimen können aber auch bei Patienten ohne Vorerkrankungen auftreten. Den Ärztinnen und Ärzten fehlt es in all diesen Fällen an geeigneten Therapieoptionen.

Antibiotika werden nach wie vor erfolgreich eingesetzt. Wann müssen wir damit rechnen, dass es auch die Widerstandsfähigen unter uns trifft?

Die Szenarien für die nächsten sagen wir zehn Jahre sind alamierend. So nimmt die Zahl der multiresistenten Bakterienstämme drastisch zu. Ohne wirksame Antibiotika gehen die Errungenschaften der modernen Medizin wieder verloren: Routineoperationen und derzeit gut behandelbare bakterielle Infektionen werden zunehmend lebensbedrohlicher. Allerdings kann niemand genaueres vorhersagen. Den Zeitraum zu präzisieren wäre Panikmache.

Worin liegt die Hauptursache für die akute Verschlimmerung der Situation?

Das Problem hat verschiedene Ursachen. Der breite und teilweise unkoordinierte Einsatz von Antibiotika in der Humanmedizin und der Tierhaltung führt fast zwangsläufig zum Auftreten multiresistenter Keime. Durch globalen Verkehr von Waren, Tieren und Menschen breiten sich Problemkeime in Kürze weltweit aus. Auf der anderen Seite entwickelt die Industrie kaum noch neue Antibiotika. Das liegt auch an der begrenzten Zahl möglicher Wirkstoffe und den schlechten Perspektiven, mit einem neuen Wirkstoff ein Geschäft zu machen – besonders wenn die Erreger schnell dagegen resistent werden.

Haben Wissenschaft und Politik zu lange zugeschaut?

Ja, genau. Das Problem zeichnete sich schon länger ab. Aber wir alle haben wohl das Ausmass und die Geschwindigkeit unterschätzt, mit der es akut wurde, sonst hätte man die Forschung schon früher stärker unterstützt. Das hat sich jetzt zum Glück geändert. So wurden die Antibiotikaresistenzen sogar zum Thema am G8 Gipfel 2013 in London. In der Schweiz lancierte der Bundesrat 2015 die nationale Strategie Antibiotikaresistenzen (StAR) und zusammen mit dem Schweizerischen Nationalfonds unser NFP 72.

Wie kann das NFP 72 zur Lösung des Problems beitragen?

Unsere Forschungsprojekte sollen helfen innerhalb von 5 Jahren konkrete Lösungsansätze zu erarbeiten. Dafür untersuchen wir die unterschiedlichen Aspekte der Resistenzproblematik in drei Modulen gebündelt: Im ersten untersuchen wir zum Beispiel, wie und wo Antibiotikaresistenzen entstehen, und wie diese von Bakterium zu Bakterium weitergegeben werden. Das ist wichtig, um die weitere Ausbreitung von Antibiotikaresistenzen gezielt zu bekämpfen.

Hilft die Forschung auch denen, die bereits mit resistenten Keimen infiziert sind?

Ja, in einem zweiten Modul entwickeln wir schnellere Diagnosemethoden. Heute braucht es meist einen bis mehrere Tage bis die bakteriellen Erreger kultiviert und ihre Resistenzspektren bestimmt sind. Während dieser Zeit tappen die behandelnden Ärztinnen und Ärzte hinsichtlich der besten Therapiemöglichkeiten im Dunkeln. Läge diese Information innert Stunden vor, könnte von Anfang an mit dem richtigen Antibiotikum behandelt werden. Ebenfalls in diesem Modul werden wir nach neuen Wirkstoffen suchen, die anschliessend von der Pharmaindustrie zur Marktreife entwickelt werden können.

Dann überlassen sie die Prüfung der Wirksamkeit neuer Wirkstoffe also der Industrie?

Die Entwicklung eines Wirkstoffs bis zur Markteinführung dauert zu lange und ist zu teuer, als dass sie von einem NFP gestemmt werden könnte. Die klinischen Studien, die wir in unserem dritten Modul durchführen werden, sind deshalb vorwiegend auf das Ziel ausgerichtet, den Verbrauch von Antibiotika zu verringern und die Verbreitung von antibiotikaresistenten Keimen zu minimieren.

Gibt es bereits erfolgreiche Beispiele für Präventionsmassahmen?

Vor einigen Jahren war der Methicillin-resistente Staphylococcus aureus (MRSA) in den Schlagzeilen. Die Niederlande haben in der sich zuspitzenden Situation bei der Spitalaufnahme eine gezielte Untersuchung eingeführt. Sind die Patientinnen und Patienten besiedelt, werden sie isoliert und mittels spezifischer Massnahmen behandelt, damit sich diese resistenten Keime nicht weiter verbreiten können. Diese als "search and destroy" bekannte Massnahme ist aufwendig aber sehr wirksam. Solche Strategien werden auch in der Schweiz vereinzelt praktiziert - anders als zum Beispiel in Holland gibt es auf nationaler Ebene aber keine verbindlichen Richtlinien.

Gibt es ausser Antibiotika keine anderen Wirkstoffe gegen Bakterien?

Es gibt Desinfektionsmittel, mit denen aber nur die Keime auf der Körperoberfläche inaktiviert werden können. Antibiotika sind per Definition selektiv giftige Wirkstoffe – sie töten Bakterien ohne den menschlichen Körper zu schädigen. Darüber hinaus gibt es alternative Ansätze, bakterielle Infektionen im Körper zu behandeln. Zum Beispiel können Wirkstoffe, die selbst nicht toxisch sind, resistente Krankheitserreger wieder für Antibiotika empfindlich machen. Eine weitere interessante Strategie wird seit Jahrzehnten in Osteuropa praktiziert. Dort setzten Ärzte gegen Bakterien gerichtete Viren ein: sogenannte Bakteriophagen. Die Wirksamkeit dieser Therapie, die zum Beispiel bei oberflächlichen Infektionen der Haut eingesetzt wird, muss aber noch durch kontrollierte klinische Studien belegt werden.

Das NFP 72 verfolgt einen One-Health-Ansatz. Was bedeutet das?

In der Ausbildung gehen Human- und Veterinärmedizin getrennte Wege. Das macht in vieler Hinsicht durchaus Sinn. Wenn es aber darum geht Antibiotikaresistenzen zu überwinden, muss über diese Disziplinen hinweg und unter Einbezug der Umweltwissenschaften geforscht und gehandelt werden. Die Erreger gelangen in die Umwelt und wechseln zwischen Tier und Mensch hin und her. Deshalb sollte zum Beispiel darauf geachtet werden, dass für medizinische Notfälle und für Operationen wichtige Antibiotika für diese Fälle reserviert bleiben und nicht in der ambulanten Patientenversorgung oder gar in der Viehzucht angewandt werden. Dies muss durch ein intelligentes "Antibiotic Stewardship" geregelt werden.

Damit Viehzüchter, Spitalpersonal und die Bevölkerung die Massnahmen mittragen, muss aber noch einiges geschehen. Wird das NFP 72 Überzeugungsarbeit leisten?

Das Ziel des NFP 72 ist, beim Abschluss konkrete Lösungsvorschläge vorzuweisen. Diese richten sich – wie bei allen NFP – an Politik und Verwaltung, die mit den nötigen Kompetenzen zu deren Umsetzung ausgestattet sind. Im Rahmen der StAR werden wir aber frühzeitig Vertreter des Gesundheits-, Agrar- und Umweltsektors involvieren. Die Projektleiterin von StAR, Karin Wäfler vom Bundesamt für Gesundheit, sitzt deshalb von Anfang an als Beobachterin in der Leitungsgruppe des NFP 72.

Resistente Erreger reisen mit den Menschen um die Welt. Was kann die Schweiz da überhaupt konkret dagegen unternehmen?

Die hohe Mobilität des Menschen stellt in der Tat eine grosse Herausforderung für unseren Gesundheitssektor dar. So breiten sich derzeit weltweit mit grosser Geschwindigkeit hochresistente Keime aus Indien aus – natürlich auch in der Schweiz. Auch deshalb sind eine schnelle Diagnose und Kontrollmassnahmen bei der Spitalaufnahme so wichtig.

Was kann unser kleines Land überhaupt zur internationalen Forschung beitragen?

Die Schweiz verfügt über einen hervorragenden Forschungsplatz und hat im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms "Antibiotikaresistenz" (NFP 49) im vergangenen Jahrzehnt bereits hohe Kompetenzen entwickelt. Unsere exzellenten Forscher sind international gut verknüpft. Weil die internationale Dimension des Problems so wichtig ist, ist ein Teil des Budgets aus dem NFP 72 für die Teilnahme an der "Joint Programming Initiative on Antimicrobial Resistance" (JPIAMR) reserviert, die das Problem auf europäischer Ebene länderübergreifend angeht.

Was müsste beim Abschluss des NFP 72 in fünf Jahren erreicht sein, damit Sie es als Erfolg betrachten?

Die Schweiz hat kompetente Forschende, ein leistungsfähiges Gesundheits- und Veterinärwesen sowie eine starke Pharmaindustrie. Trotzdem ist klar: Antibiotikaresistenzen werden uns auch im besten Falle noch lange begleiten. Wenn das NFP 72 konkrete Massnahmen entwickeln kann, die unmittelbar hilfreich sind, damit wir wertvolle Zeit für eine grundlegendere Lösung gewinnen können, wäre das bereits ein grosser Schritt.