"Wir wissen nicht, welche Übertragungswege entscheidend sind."

Jean-Yves Madec, neu gewähltes Leitungsmitglied des NFP 7, über die Notwendigkeit von "One Health"-Forschung im Bereich antimikrobielle Resistenz.

Viele Länder treiben die Forschung zu Entwicklung und Verbreitung von Antibiotikaresistenzen voran. Doch welche Wissenslücken bestehen, und was kann die Forschung zur Lösung des Problems beitragen? Jean-Yves Madec, neu gewähltes Leitungsmitglied des NFP 72, gibt im Interview Einblicke in diese Fragen. Madec ist Mikro- und Molekularbiologe. Er leitet und koordiniert bei der französischen Agentur für Lebensmittelsicherheit, Umwelt- und Arbeitsschutz (Anses) sämtliche wissenschaftlichen Aktivitäten, die sich mit der Überwachung und der Erforschung von Antibiotikaresistenzen befassen.

Kürzlich hat die französische Regierung ein Forschungsprogramm zu Antibiotikaresistenzen gestartet, das ähnlichen Schwerpunkte setzt wie das NFP 72. So will man etwa ein besseres Verständnis der Entwicklung und Verbreitung von Antibiotikaresistenzen erlangen, und zwar über Mensch, Tier und Umwelt hinweg. Wo sehen Sie diesbezüglich die grössten Wissenslücken?

Wir alle wissen, dass wir die Verbreitung von Resistenzen über die erwähnten Bereiche hinweg betrachten müssen. Dass die Politik hier weitere Forschungsanstrengungen unterstützt, ist sehr erfreulich. Der One-Health-Ansatz hat die Wissenschaft denn auch einen bedeutenden Schritt vorangebracht. Wenn Sie heute einen Übersichtsartikel zum Thema zu Rate ziehen, dann sehen Sie umfangreiche Grafiken, in denen alles mit allem verknüpft ist. Das ist auch richtig so. Doch Sie finden in diesem Dickicht an Pfeilen keinen klaren Aufschluss darüber, was denn nun die Hauptursachen für die ganzen Prozesse sind – wenn es denn Hauptursachen gibt.

Jetzt geht es also darum aufzuzeigen, wie die Dinge verknüpft sind, und nicht nur, dass sie verknüpft sind?

Tatsächlich wissen wir nicht, ob bestimmte Übertragungswege zwischen den Bereichen Mensch, Tier und Umwelt bedeutender für die gesamthafte Verbreitung von Resistenzen sind als andere. Wir müssen diese Effekte quantifizieren. Hier können in den kommenden Jahren einige Lücken geschlossen werden. Erst vor kurzem haben etwa dänische Kollegen eine Modellierungsstudie zu Verbreitungswegen von ESBL (1) publiziert. Das Ergebnis: Sechzig Prozent aller ESBL-Übertragungen beim Menschen stammen vom Menschen selbst. Der Rest ist auf die anderen Sektoren zurückzuführen, etwa auf Nahrungsmittel und Kontakte zu Nutz- und Haustieren.

Und eine solche Quantifizierung kann Basis für konkrete Massnahmen sein?

Man kann diese Daten unterschiedlich betrachten, je nachdem was man aussagen will. Wie sehr häufig auf diesem Gebiet. Wir haben zwar viel über die Verbreitung von Resistenzen gelernt, aber im Hinblick auf konkrete Massnahmen wissen wir noch immer nicht, welche Übertragungswege nun entscheidend sind, um den Kreislauf zu durchbrechen.

Will der One-Health-Ansatz also zu viel?

Sagen wir, es besteht das Risiko, dass man sich in allgemeinen globalen Aussagen zur Entstehung und Verbreitung von Resistenzen verliert, dabei aber wesentliche Ursachen auf lokaler Ebene und innerhalb der verschiedenen Bereiche ausser Acht lässt. Dennoch ist der One-Health-Ansatz zentral. Die Dinge sind miteinander verbunden, und wir werden das Problem nur lösen, wenn wir dies berücksichtigen.

Sie betonen die lokale Ebene, wenn es um konkrete Massnahmen geht. Inwieweit sind die Forschungsarbeiten in einzelnen Ländern überhaupt über deren Grenzen hinaus von Bedeutung?

Viele Resultate sind verallgemeinerbar, doch hängt ihre praktische Relevanz von den jeweiligen regionalen Umständen ab. Zum Beispiel zeigten Wissenschaftler während der niederländischen MRSA-Krise (2) von 2004, dass MRSA von Schweinen auf Menschen übertragen werden kann. Schweinezüchter haben also ganz generell ein Risiko, sich mit MRSA zu infizieren. Dieses Wissen zog allerdings in den Niederlanden ganz andere Konsequenzen nach sich als in Frankreich.

Weshalb?

Weil in Frankreich MRSA bei Schweinen viel weniger verbreitet war und ist. Obwohl also MRSA in beiden Ländern genau gleich übertragen wird, hat man in Frankreich nicht viel unternommen. Aus einer wissenschaftlichen Perspektive sollte man global denken, doch handeln muss man lokal.

Sie sagten, der One-Health-Ansatz habe bisher keine ausreichend quantifizierbaren Ergebnisse über die Rolle einzelner Übertragungswege gebracht. Ist er für konkrete Massnahmen überhaupt von Bedeutung?

Der One-Health-Ansatz hat in praktischer Hinsicht bereits sehr viel gebracht. Zwar ist vieles noch nicht ausreichend quantifiziert, es ist aber dennoch klar erwiesen, dass die verschiedenen Sektoren zusammenhängen. Nur aus diesem Grund haben sich Landwirte und Tierärzte dem Kampf gegen Antibiotikaresistenzen angeschlossen. Im Gegensatz zur Humanmedizin spielt bei ihnen Therapieversagen keine grosse Rolle. Aber sie engagieren sich, weil sie Antibiotika einsetzen und wissen, dass dies zur Vergrösserung der allgemeinen Resistenzproblematik beiträgt.

Tatsächlich haben Landwirte und Veterinärmediziner in Frankreich in den letzten Jahren den Antibiotikaeinsatz deutlich reduzieren können.

Eben weil es uns gelungen ist aufzuzeigen, wie der Antibiotikagebrauch bei Tieren zu Resistenzen führt, wie diese von Tieren in die Umwelt und auf Menschen gelangen können und zurück. Das Schöne in Frankreich ist, dass nun auch Humanmediziner auf den Erfolg der Tierärzte verweisen, um ihre eigenen Kollegen zu überzeugen.

Und all die unterschiedlichen Fachleute tauschen sich aus, suchen nach Lösungen und einigen sich auf einen gemeinsamen Weg?

Wir haben die Fachleute aus allen Bereichen erfolgreich an einen Tisch gebracht, ja. Doch nun befinden wir uns an einem kritischen Punkt, glaube ich. Die Landwirte und Veterinäre haben sehr viel geleistet, aber um noch weiter zu gehen, benötigen wir eine klare Vorstellung über die nächsten Ziele. Nur konnten wir bisher, um ehrlich zu sein, keinen wissenschaftlich fundierten Nachweis dafür bringen, dass sich der Rückgang der Resistenzen bei Tieren auch auf die Situation beim Menschen ausgewirkt hat.

Sie meinen, es ist fraglich, ob sich der Aufwand überhaupt gelohnt hat?

Nein, das steht ausser Frage. Ich glaube sogar, dass grundsätzlich alle bereit sind, in diese Richtung weiter zu gehen. Wir können nicht zum enorm hohen Antibiotikagebrauch früherer Jahre zurückkehren. Aber wir können auch nicht den Nullverbrauch bei Tieren anstreben. Sie sollen ja auch behandelt werden. Es ist deshalb wichtig, jetzt mit einem One-Health-Blickwinkel klar festzuhalten, welche zusätzlichen Anstrengungen zu welchen Ergebnissen führen. Und deutlich zu machen, was auch die anderen Bereiche, nicht zuletzt die Humanmedizin, leisten müssen. Wir wissen zum Beispiel, dass die französische Bevölkerung im Vergleich zur holländischen viel mehr Antibiotika einsetzt. Die Herausforderung für die kommenden Jahre ist also, die Zusammenarbeit zwischen den Fachleuten der verschiedenen Bereiche aufrecht zu erhalten. Und – noch einmal – es wird in diesem Sinne sehr viel helfen, wenn es gelingt, den Anteil einzelner Übertragungswege an der Gesamtproblematik zu quantifizieren.

Erwarten Sie wissenschaftliche Durchbrüche, welche unsere Möglichkeiten im Kampf gegen Antibiotikaresistenzen fundamental verbessern werden?

Mit dem Aufkommen schneller und günstiger DNA-Sequenzierungstechnologien sehen wir bereits jetzt massgebende Fortschritte, wenn auch vor allem in methodischer Hinsicht. Sie geben uns Zugang zu riesigen Mengen genomischer Daten und ermöglichen so neue Ansätze in Überwachung und Diagnose von Antibiotikaresistenzen. Doch diese nutzen vor allem die westlichen Industrienationen, nicht aber die Länder in Südostasien oder Afrika, die weit stärker von Antibiotikaresistenzen betroffen sind. Ob künftige wissenschaftliche Durchbrüche wirklich etwas ändern, hängt meiner Meinung nach von der Frage ab, ob auch diese Länder davon profitieren können.

  1. Extended-Spectrum-Betalaktamasen (ESBL) sind Enzyme, die von Bakterien gebildet werden können und zu Resistenzen gegen mehrere Antibiotikaklassen führen.
  2. MRSA (Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus) ist eine antibiotikaresistente Sthaphylokokkenart.