Joachim Frey und Christoph Dehio im Interview
Der Präsident des NFP 72 und sein Vorgänger, nun Direktor des Nationalen Forschungsschwerpunkts (NFS) AntiResist, über die beiden Forschungsinitiativen.
Die Programmtagung 2020 des NFP 72 musste wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden. Ihnen ist damit die Gelegenheit entgangen, als scheidender beziehungsweise als antretender Präsident das Wort an die Forschenden zu richten. Lassen Sie uns das nachholen.
Christoph Dehio: Ich hatte mich sehr auf die Programmtagung in Thun gefreut, um nochmals die ganze NFP 72 Community zu treffen und mich bei dieser Gelegenheit persönlich bei allen Beteiligten für die hervorragende Zusammenarbeit in den vergangenen vier Jahren zu bedanken. Die Arbeit im Management-Team und in der Leitungsgruppe habe ich als äusserst professionell erlebt und die zahlreichen Begegnungen mit Projektleitenden und Forschenden im Rahmen der Programmtagungen, Workshops und der vielen Site-Visits waren für mich sehr bereichernd. Aufgrund der grossen Spannweite des Themas Antibiotikaresistenz ist das NFP 72 sehr breit aufgestellt; umso mehr war ich beeindruckt, wie dieser Forschungsverbund im Laufe der Jahre über die disziplinären Grenzen hinweg zu einer Familie zusammengewachsen ist. Ich habe einen enormen Willen gespürt, gemeinsam konstruktive Lösungen zu erarbeiten. Dafür möchte ich allen ein grosses Kompliment und meinen Dank aussprechen. Ich wünsche dem NFP 72 einen erfolgreichen Abschluss der Forschungsphase und im Weiteren einen produktiven Syntheseprozess unter Joachims Leitung.
Joachim Frey: Meinerseits danke ich zuerst Christoph für seine wertvolle Arbeit für das NFP 72 und wünsche ihm viel Erfolg in seiner neuen Funktion im NFS AntiResist. Auch ich nehme die Bereitschaft zur Zusammenarbeit im NFP 72 als sehr ausgeprägt wahr. Sie wird für die nächste Phase des Programms sogar noch entscheidender sein: Zur Programmsynthese werden wir in den kommenden eineinhalb Jahren die Erkenntnisse aus den Forschungsprojekten zusammentragen und diskutieren. Und aufgrund des wissenschaftlichen Konsenses praktische Handlungsempfehlungen für Wirtschaft, Gesellschaft und Politik erarbeiten. Angesichts der bisherigen Erfahrungen freue ich mich sehr darauf.
Ändert sich aufgrund der Corona-Pandemie der Fahrplan des NFP 72?
Joachim Frey: Einzelne Projekte werden sicher etwas mehr Zeit benötigen. Weil die Labors jetzt geschlossen sind, oder weil Forschende, die im Gesundheitswesen arbeiten, ihre Kräfte über längere Zeit ausschliesslich zur Bewältigung der Krise einsetzen. Doch für die übergeordneten Prozesse wie die Konsolidierung des Wissens sind wir zuversichtlich. Zwar sind wichtige Treffen ausgefallen, dafür haben wir – wie viele andere auch – in den vergangenen Wochen viele kleinere Meetings ins Internet verlegt.
Während im NFP 72 bereits Resultate in den Fokus rücken, wird mit dem NFS AntiResist im August ein zweites vom SNF gefördertes Forschungsprogramm im Kontext der Resistenzproblematik starten. Wie unterscheiden sie sich?
Christoph Dehio: Der NFS AntiResist ist thematisch enger abgesteckt als das NFP 72. Wir wollen mit einem neuartigen, interdisziplinären Ansatz die in den letzten Jahrzehnten wenig ergiebige Antibiotikaforschung auf eine neue Basis stellen. Anstelle der standartmässig verwendeten künstlichen Wachstumsbedingungen für Bakterien werden wir versuchen, die unterschiedlichen physiologischen Zustände im infizierten Patientengewebe im Labor nachzubilden. Mit Hilfe dieser neuartigen Modelle wollen wir dann neue Angriffspunkte zur Bekämpfung Antibiotika-resistenter Keime entdecken. Langfristig sollte dies die Entwicklung neuer Antibiotika, aber auch alternativer antimikrobieller Therapieansätze ermöglichen.
Joachim Frey: Das NFP 72 ist demgegenüber in der Tat breiter gefasst und klar als Programm definiert. Wir erforschen die Verbreitungswege von Antibiotikaresistenzen ebenso wie neue Wirkstoffe und Diagnostikinstrumente. Zudem erarbeiten verschiedene Projekte Grundlagen zur Erhöhung der Effizienz und Sicherheit der Verschreibungspraxis von Antibiotika bei Mensch und Tier. Sämtliche Arbeiten waren von Beginn weg darauf ausgerichtet, die Vorgaben des Programms zu erreichen. Man suchte denn auch an allen Hochschulen und Universitäten Projekte, die mit der vorhandenen Infrastruktur durchgeführt werden und sofort starten konnten. Innert fünf Jahren soll das Programm im Auftrag des Bundesrates neue praktische Lösungsansätze gegen die zunehmende Antibiotikaresistenz erarbeiten.
Christoph Dehio: Die Förderinstrumente NFS und NFP unterscheiden sich aber auch sehr grundsätzlich in ihrer Konzeption: Die Lancierung eines NFP erfolgt «top-down» im Kontext drängender gesellschaftlicher Fragen, zu denen das NFP dann konkrete Antworten und Lösungsansätze erarbeitet. Ein NFS dagegen wird «bottom-up» von Forschenden beantragt und muss sich zunächst in einem kompetitiven Verfahren durchsetzen. Im Vergleich zum NFP ist die Forschung stärker den Grundlagen verhaftet und zielt darauf ab, ein ganzes Forschungsfeld neu auszurichten. Zum expliziten Auftrag eines NFS gehört deshalb auch die Bildung neuer Forschungsstrukturen, sowie die Ausbildung der nächsten Generation von Forschenden für dieses Forschungsfeld. Ein NFS hat deshalb eine längere Laufzeit von bis zu zwölf Jahren.
Sie sprechen vom Aufbau von Strukturen. Was heisst das im Fall des NFS AntiResist konkret?
Christoph Dehio: Der interdisziplinäre Ansatz des NFS AntiResist bedingt eine enge Verzahnung von klinischer Forschung in der Infektiologie, der infektionsbiologischen Grundlagenforschung und dem Bioengineering. Damit diese Bereiche über disziplinäre Grenzen hinweg zusammenwachsen, schaffen wir Professuren und ein spezifisches Doktoratsprogramm mit Brückenfunktion. Eine wichtige Rolle kommt auch den wissenschaftlichen Serviceeinrichtungen zu, die an den Schnittstellen positioniert sind, etwa im Bereich Biobanking und Analytik von Patientenproben oder in der Entwicklung und Anwendungen der Mikrofluidik für Einzelzellanalysen. Diese Strukturbildungsmassnahmen erfolgen primär im Rahmen einer engen Zusammenarbeit zwischen drei Institutionen, die auf einem gemeinsamen Campus in Basel angesiedelt sind und somit das Zentrum des NFS bilden. Dies sind das Biozentrum der Universität Basel als Heimatinstitution, das Universitätsspital Basel und das D‑BSSE [Department of Biosystems Science and Engineering] der ETH Zürich in Basel. Darüber hinaus sind weitere Institutionen in Zürich und in Lausanne am NFS beteiligt. Von grosser Bedeutung für AntiResist ist auch die enge Zusammenarbeit mit Biotech-KMUs und der pharmazeutischen Industrie im Raum Basel, die im Bereich Antibiotika R&D tätig sind.
Baut das NFP 72 ebenfalls Strukturen auf, die über seine eigentliche Laufzeit andauern?
Joachim Frey: Das NFP etabliert in diesem Sinne keine festen Forschungsstrukturen. Es wird aber durchaus langfristige Auswirkung haben, was die Bildung einer wissenschaftlichen Community in der Schweiz betrifft, die das Thema Antibiotikaresistenz in einer One Health-Perspektive angeht. Doch unser Hauptfokus liegt klar auf den Folgen, welche unsere Forschung für die Praxis haben wird, seien es wissenschaftlich begründete Anpassungen in der Tierhaltung, der Nutzung von Abwässern und Gewässern in Hinsicht auf Übertragung von Antibiotikresistenzen oder neue Systeme zur Überwachung der Resistenzsituation in der Schweiz.
Christoph Dehio: Ich sehe die im Rahmen des NFP 72 gebildete wissenschaftliche Community im Bereich Antibiotikaforschung ebenfalls als eine wichtige Errungenschaft für den Forschungsstandort Schweiz, zu deren Pflege und dynamischen Weiterentwicklung der NFS AntiResist zukünftig beitragen wird.
Beide von Ihnen geleiteten Forschungsverbünde sollen letztlich dazu beitragen, die Problematik der Antibiotikaresistenzen einzudämmen. Werden wir dieses Ziel in den nächsten Jahren erreichen?
Joachim Frey: Ein wesentlicher Teil des NFP 72 ist die Programmsynthese. Sie soll der Politik, besonders der Exekutive, wissenschaftlich fundierte Lösungsansätze präsentieren. Ein grosses Ziel ist aufzuzeigen, wie im Sinne einer One-Health-Perspektive verfügbare Antibiotika in der Human- und Veterinärmedizin und in der Landwirtschaft nachhaltiger eingesetzt werden können. Die jeweiligen Verbände und Organisationen dieser Berufsgruppen sind wichtige Umsetzungspartner. Tatsächlich sind sie über die Projekte des NFP 72 informiert und zeigen grosses Interesse. Allenfalls müssen auch Gesetze oder Verordnungen angepasst werden, um entscheidende Fortschritte zu erzielen. Deshalb ist es wichtig, dass auch die Bevölkerung über die Resistenzproblematik gut informiert ist, was ja StAR (Strategie Antibiotikaresistenzen Schweiz) mit einer Sensibilisierungskampagne bezweckt. Nur wenn starke Massnahmen auf breite Akzeptanz und Unterstützung stossen, wird es gelingen, die Problematik in den Griff zu bekommen.
Christoph Dehio: Auch der NFS AntiResist wird zweifellos einen wichtigen Beitrag leisten. Die Ziele von AntiResist sind jedoch langfristig angelegt: Letztlich haben wir den Anspruch, einen Paradigmenwechsel in der Antibiotikaforschung zu bewirken, der die Möglichkeiten und Chancen neue Antibiotika zu entwickeln nachhaltig verbessert und zugleich alternative Behandlungsmethoden wie Immuntherapie, Phagentherapie und Anti-Virulenzstrategien fördert.