"Daten in Kontext setzen - das ist das Schöne daran"

Interview: Jacques Schrenzel über den aktuellen Stand der Schlüsseltechnologie WGS und was sie zur Bekämpfung von Antibiotikaresistenzen leisten kann.

​Am 17. August fand das Symposium "One Health Meets Sequencing" als Online-Veranstaltung statt. Es präsentierte aktuelle und laufende Projekte im Bereich One Health und Ganzgenomsequenzierung (Whole Genome Sequencing, kurz: WGS) in der Schweiz. Internationale Expertinnen und Experten ergänzten das Programm und diskutierten die neusten wissenschaftlichen Fortschritte auf dem Gebiet. Der diesjährige Schwerpunkt lag auf Antibiotikaresistenzen. Dabei wurden wissenschaftliche Erkenntnisse mit praktischen Fragestellungen verknüpft, etwa in den Bereichen Überwachung und Ausbruchsbekämpfung.

WGS erfasst alle Resistenzgene, einschliesslich derjenigen, die durch horizontalen Gentransfer zwischen verschiedenen Bakterienarten übertragen werden. Deshalb ist die Technologie ideal geeignet, um Antibiotikaresistenzen über das gesamte biologische System, das Menschen, Tiere und die Umwelt bilden, zu verfolgen (One-Health-Ansatz). Im Interview spricht Jacques Schrenzel, Leiter der Laboratorien für Genomforschung und Bakteriologie des Universitätsspitals Genf (HUG) und Mitorganisator des Symposiums, über den aktuellen Stand dieser Schlüsseltechnologie im Bereich Resistenzforschung und den Beitrag, den WGS zur Bekämpfung der Antibiotikaresistenz leisten kann.

Nach 2019 fand das Symposium dieses Jahr zum zweiten Mal statt. Wie hat sich WGS innerhalb dieser zwei Jahre entwickelt , Herr Schrenzel?

Vor zwei Jahren haben wir noch viel über die Schwierigkeiten gesprochen, aus einzelnen Gensequenzen ein gesamtes Genom zusammenzusetzen. Zwei Jahre später sind die meisten technischen Schritte sehr viel klarer oder sogar automatisiert, WGS hat weitere Verbreitung gefunden. Viele der ausgezeichneten Vorträge in diesem Jahr haben gezeigt, wie mächtig die Technologie geworden ist. Mittlerweile hat sich der Fokus auf die Fragen verlagert, die wir damit eigentlich angehen wollen, und darauf, wie wir das Beste aus den durch WGS gewonnenen Daten herausholen können.

Können Sie das näher erklären ?

Joachim Frey gab auf dem Symposium ein gutes Beispiel: Er demonstrierte, dass WGS eine entscheidende Rolle spielte, um die weltweiten Ausbreitungswege des Milzbranderregers Anthrax aufzuklären. Doch er zeigte auch, dass neben der Technologie selbst zudem entscheidend war, zu jeder Probe Metadaten zu beschaffen. Diese Metadaten geben an, wann eine Probe entnommen wurde, wo, bei welchem Patienten, welchem Tier usw. Im Falle von Anthrax zeigten sie, dass alle bekannten menschlichen Infektionen in der Schweiz bei Angestellten von Wollverarbeitungsbetrieben auftraten. Erst durch diese Information kam man auf die richtige Spur. Die genetischen Daten aus aller Welt begannen einen Sinn zu ergeben, und allmählich sah man, wie sich Anthrax durch den internationalen Handel mit Ziegen- und Schafwolle weltweit verbreitet hatte. Das ist das Schöne an der Sache: Stellen wir die reinen Sequenzierungsdaten in Kontext, können wir mit WGS wichtige Fragen beantworten.

Welche Fragen sind das im Bereich der Antibiotikaresistenz ?

Eine lautet: Wie findet die Selektion von Antibiotikaresistenzen in der Umwelt statt? Jesse Shapiro stellte auf dem Symposium ein elegantes Projekt zu diesem Thema vor. Es wurde deutlich, dass WGS das Potenzial hat, eng definierte Fragen zu klären – aber das erfordert wirklich intelligente Studiendesigns. Andererseits besteht auch das Potenzial, sozusagen das grosse Ganze zu erfassen, also zu klären, welcher Anteil der Resistenzen tatsächlich auf welche spezifischen Aktivitäten zurückzuführen ist. Welche Resistenzen entstehen beispielsweise durch den Einsatz von Antibiotika in der Tierzucht und wo finden sie sich dann in klinisch relevanten Krankheitserregern wieder? Indem wir mit Hilfe von WGS alle Resistenzgene erfassen und vergleichen, können wir über alle Sektoren hinweg und geografisch unbegrenzt Zusammenhänge erkennen. Das setzt aber wiederum voraus, dass wir auch gute Metadaten erhalten, die etwas zum Kontext aussagen.

Um die vielfältige n Verbreitungswege von Resistenzen genau zu erfassen, müssten allerdings riesige Datenmengen zusammengetragen werden ?

​Das unterstreicht eben die Notwendigkeit, Metadaten zu standardisieren und interoperable Datensätze anzulegen. Tatsächlich konzentrierten sich viele Diskussionen am Symposium auf die Frage, wie wir die grossen Mengen genomischer Daten von antibiotikaresistenten Erregern zusammenführen können, die derzeit in der Human- und Veterinärmedizin, in Umweltlabors, aber auch in vielen Forschungsprojekten erzeugt werden. Denn je mehr Daten zusammenkommen und schnell verglichen werden, weil sie interoperabel sind, desto mehr sehen wir.

Wie lässt sich daraus ein konkrete r Nutzen für die öffentliche Gesundheit ziehen ?

Gegenwärtig halten wir mehrere Aktivitäten für verantwortlich für die Entwicklung von Antibiotikaresistenzen. Aber wie hoch ihr Beitrag wirklich ist, wissen wir nicht. Doch wenn wir die verschiedenen Elemente, die an Ausbreitung von Antibiotikaresistenzen beteiligt sind, quantifizieren können, würde uns das genau zeigen, wo wir handeln müssen. Auch hätten wir eine viel klarere Vorstellung davon, welche Intervention welche Wirkung erzielen würde. So könnten politische Entscheidungsträger mutige und gezielte Massnahmen ergreifen. Das Zusammenführen von WGS-Daten aus allen Bereichen ist deshalb sogar von grösster Bedeutung für die öffentliche Gesundheit.

Sollten also Laboratorien, die WGS-Daten produzieren, verpflichtet werden, diese über eine gemeinsame Datenbank auszutauschen?

Ich denke, ein simpler Top-Down-Ansatz wäre nicht ideal. Doch der Staat könnte die gemeinsame Nutzung von Daten erleichtern, indem er langfristig eine geeignete Datenbank unterstützt. Forschende und Institutionen sollten ihre Daten problemlos da einspeisen können. Dafür müssen zunächst Standards definiert werden, insbesondere für Metadaten, und allen Labors sollte man professionelle Unterstützung anbieten, auch mit geeigneten Tools, die das Hochladen von standardisierten Daten in die gemeinsame Datenbank erleichtern.

Zumindest die vom SNF geförderten Forschenden sind doch bereits jetzt verpflichtet, die anfallenden D aten eines Projekts in Repositorien zu hinterlegen.

Leider sind diese Daten zwar technisch tatsächlich zugänglich, aber praktisch unbrauchbar. Denn es gibt keine klaren Standards für die Interoperabilität. Genau hier könnte eine gute Unterstützung für Forschende von grossem Nutzen sein. Sie müssen die Daten ja ohnehin hinterlegen. Und mit der vom Schweizerischen Institut für Bioinformatik im Rahmen eines NFP 72-Projekts entwickelten Plattform zur Analyse von WGS-Daten ist auch dieser Aspekt bereits vorhanden. Viel braucht es gar nicht mehr, um hier weiterzukommen.

Wo könnte die Diskussion am nächsten Symposium stehen , das bereits im kommenden Jahr stattfindet?

Hoffentlich sprechen wir dann schon über internationale Infrastrukturen und Interoperabilität. Schliesslich breiten sich Antibiotikaresistenzen weltweit aus und zwingen uns, auf demselbem Level mitzuhalten.