Interview – "Der One-Health-Ansatz ist nicht neu. Doch viele Wissenschaftler haben ihn lange Zeit nicht beachtet."

Erst durch Gesundheitskrisen der jüngeren Zeit sind die Zusammenhänge zwischen der Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt in den Fokus der Forschung gerückt, sagt Dik Mevius.

​Herr Mevius, der Titel Ihres Referats lautet "Antimikrobielle Resistenz, ein komplexes One-Health-Problem". Können Sie den Begriff One-Health kurz erläutern?

One-Health bedeutet, dass die Entwicklung antimikrobieller Resistenzen nicht nur auf die Humanmedizin beschränkt ist, sondern überdies mit der Gesundheit von Tieren und der Umwelt zusammenhängt. Die weltweite dramatische Zunahme antimikrobieller Resistenzen während der letzten zehn bis zwanzig Jahre ist auf eng verflochtene Prozesse zwischen Mensch, Tier und Umwelt zurückführen. Deshalb lässt sich das Problem nicht nur innerhalb eines Bereichs lösen. Vielmehr sollten sowohl Forschung als auch praktische Massnahmen auf die Schnittstellen dazwischen zielen.

Dass die Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt zusammenhängt, dürfte keine neue Sichtweise sein. Weshalb aber hat dies erst in letzter Zeit so grosse Aufmerksamkeit erlangt?

Tatsächlich ist der One-Health-Ansatz nicht neu. Doch er wurde von vielen Wissenschaftlern lange Zeit nicht beachtet. Es brauchte die Gesundheitskrisen der letzten Jahre wie BSE, die Vogelgrippe oder MRSA, um die vielfältigen Beziehungen zwischen den einzelnen Bereichen und die potentiellen Folgen ins Bewusstsein zu rücken. Besonders wichtig war der Q-Fieber Ausbruch in den Niederlanden zwischen 2007 und 2010. Q-Fieber wird durch Bakterien verursacht, die vor allem in Rindern, Schafen und Ziegen vorkommen, aber auch in Haustieren wie Katzen und Hunden. Die Bakterien können jedoch auch auf Menschen übertragen werden, wo sie in rund der Hälfte der Fälle zu Symptomen führen. Zum Beispiel zu Lungenentzündungen. Während des Q-Fieber-Ausbruchs in den Niederlanden erkrankten tausende Menschen, mehr als 25 Patienten starben.

Die Infektionen waren von Tieren übertragen worden?

Der Hauptgrund der Epidemie war, dass Menschen Aerosole einatmeten, die von belasteten Böden und tierischen Abfällen aus Milchziegen-Betrieben stammten.

Wie trat man der Krise entgegen?

Als Notfallmassnahme wurden tausende Ziegen geschlachtet. Das sollte verhindern, dass sich die Krankheit weiter verbreitet. Dann ergriff man vor allem in Ziegen- und Schafbetrieben präventive Massnahmen wie Impfungen und verbesserte Hygiene. Die wichtigste Lektion aber war: Tiermedizin und Humanmedizin müssen künftig enger zusammenarbeiten. Denn der Q-Fieber-Ausbruch hätte mit einem besseren Informationsaustausch an einem früheren Punkt verhindert werden können.

Die Krise hat also zu einem neuen Denken über den One-Health-Ansatz geführt?

Sie war ein Katalysator, der dessen überragende Bedeutung ins Bewusstsein gerückt hat. 60 Prozent aller Infektionskrankheiten beim Menschen sind zoonotisch, also zwischen Mensch und Tier übertragbar. Der Anteil ist sogar noch höher, wenn man nur die in den letzten Jahren am stärksten zunehmenden Infektionskrankheiten betrachtet.

Und die Erreger all dieser Erkrankungen können gegen antimikrobielle Medikamente resistent werden.

Genau. Deshalb kann sich eine Verringerung der Resistenzen im Tierbereich auch positiv auf die Situation im Humanbereich auswirken. Doch wollen wir antimikrobielle Resistenzen effektiv bekämpfen, müssen wir in allen Bereichen Massnahmen ergreifen. Und genau aufklären, wie sich Resistenzen über die verschiedenen Bereiche hinweg entwickeln und verbreiten. Denn das Problem sind nicht nur resistente Krankheitserreger.

Das müssen Sie erklären.

Zwischen Mensch, Tier und Umwelt werden auch Mikroben und einzelne genetische Elemente ausgetauscht, die zwar selber keine Krankheiten auslösen, die aber dazu beitragen können, dass bereits vorhandene Krankheitserreger antimikrobielle Resistenzen entwickeln. Der Grund dafür ist, dass Bakterien genetische Informationen austauschen und aus sie umgebenden Medien aufnehmen können. Resistent gewordene Krankheitserreger geben so ihrerseits genetische Informationen weiter, wenn sie vom Menschen auf Tiere oder ins Abwasser gelangen. Diese Informationen können in sogenannten Reservoirs überdauern und später wiederum zur Entwicklung neuer Resistenzvarianten bei Krankheitserregern beitragen. Diese Prozesse sind bisher nur lückenhaft bekannt und noch kaum quantifiziert.

In Ihrem Referat haben Sie gezeigt, dass zur Lebensmittelgewinnung genutzte Tiere in den Niederlanden ein ideales Umfeld für multiresistente Organismen bilden, auf der anderen Seite die Resistenzsituation in der Humanmedizin dennoch ziemlich gut ist. Da stellt sich doch die Frage, ob die verschiedenen Bereiche tatsächlich so eng zusammenhängen?

In den Niederlanden ist die Resistenzsituation in der Humanmedizin derzeit ziemlich gut, weil effektive Massnahmen zur Infektionskontrolle bestehen und Antibiotika sehr restriktiv eingesetzt werden. Aber ohnehin sind resistente Erreger in Tieren und der Umwelt in der Regel keine unmittelbare Bedrohung für die öffentliche Gesundheit. Sie führen nicht in grossem Masse zu Infektionen bei Menschen. Die Beziehungen zwischen Mensch, Tier und Umwelt sind komplexer und betreffen vor allem die Entwicklung von Resistenzen, die ich vorhin angesprochen habe. Das heisst, sie erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass sich irgendwo neue Resistenzvarianten bilden und verbreiten, die für die öffentliche Gesundheit von Bedeutung sind. Dieser entwicklungsbezogene Aspekt ist es, der zu der globalen Resistenzproblematik geführt hat, die wir im Moment beobachten.

Doch die Niederlande sind davon bisher nicht gross betroffen?

In Ländern wie den Niederlanden und der Schweiz können wir das Problem mit grossen Anstrengungen im Gesundheitswesen vielleicht noch eine Weile in Schach halten. Aber wenn wir die Entstehung und Verbreitung von antimikrobiellen Resistenzen nicht mit einem One-Health-Ansatz eindämmen, gelangen wir längerfristig an den gleichen Punkt wie andere Länder, wo es bereits jetzt sehr schwierig ist, Menschen mit Infektionskrankheiten zu behandeln.

Denken Sie, es wird der Wissenschaft in den kommenden Jahren gelingen, entscheidende Erkenntnisse über die komplexen Prozesse in und zwischen den einzelnen Bereichen Mensch, Tier und Umwelt aufzudecken? Kann sie Lösungen finden, um diese Prozesse zu unterbrechen oder zu bremsen?

Unsere Möglichkeiten, diese Fragen anzugehen, haben sich in den letzten Jahren fundamental verbessert. Dank neuer wissenschaftlicher Methoden und Instrumente können wir mittlerweile in kürzester Zeit riesige Mengen genetischen Materials sequenzieren und vergleichen. Das ist der Schlüssel, um die Zusammenhänge zwischen Resistenzvarianten effizient zu untersuchen und letztlich jene Prozesse zu erkennen, die ihre Evolution beeinflussen und ermöglichen.

Die Niederlande verfügen als Pionier bereits über viel Erfahrung in der gemeinsamen Forschung von Humanmedizin, Veterinärmedizin und Umweltwissenschaften im Bereich der antimikrobiellen Resistenz. Wie gut funktioniert diese Zusammenarbeit?

ie funktioniert gut. Doch dazu brauchte es natürlich einige Zeit. Die unterschiedlichen Disziplinen müssen sich erst kennenlernen. Vor allem die Rollen der jeweils anderen Gebiete in Bezug auf zoonotische Infektionen, und speziell jene Aspekte, die in der One-Health-Perspektive relevant sind. In den Niederlanden haben uns dabei die erwähnten Gesundheitskrisen in gewisser Weise geholfen. Durch sie haben wir realisiert, dass wir bestimmte Probleme bereichsübergreifend angehen müssen. Dieses Bewusstsein ist die Voraussetzung, um eine enge Zusammenarbeit zwischen den involvierten Disziplinen aufzubauen. Und einmal etabliert, können solche Partnerschaften viel erreichen.

Neue Lösungsansätze der Wissenschaft sind eine Sache, die Übersetzung in die Praxis eine andere. Was sind die Erfahrungen der Niederlande in dieser Hinsicht?

Forscher müssen Gefahren identifizieren, Risiken charakterisieren und mögliche Lösungen aufzeigen. Und zwar so, dass sie Risikomanager in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft überzeugen, entsprechende Massnahmen zu ergreifen. Das setzt einen aktiven Austausch zwischen Forschung, Behörden und privaten Stakeholdern voraus. Ich denke, die Schweiz ist in dieser Beziehung auf einem guten Weg. Mit einer koordinierten nationalen Strategie ist sie in vielen Bereichen bereits in der Umsetzungsphase. Jedes Land muss seine eigenen Massnahmen entwickeln, auch wenn es sich um ein globales Problem handelt. Lösungen funktionieren nur, wenn sie den lokalen Gegebenheiten angepasst sind, den jeweiligen Strukturen des Gesundheitssektors, des Landwirtschaftssektors, den politischen Realitäten und anderen nationalen Eigenheiten. Das erfordert ein Bewusstsein um die komplexen Interaktionen zwischen den verschiedenen Bereichen. Und es braucht Zeit.