"Ohne äussere Membran ist für Bakterien Schluss"
Eine soeben in der Fachzeitschrift "Nature" publizierte Studie beschreibt die Entdeckung einer neuen Antibiotikaklasse. Mitautor Sebastian Hiller vom Biozentrum Basel erklärt, was es damit auf sich hat.
Das Biopharma-Unternehmen Polyphor hat in Zusammenarbeit mit den Universitäten Zürich und Basel und der ETH Zürich neuartige Wirkstoffe gegen gram-negative Bakterien entwickelt. In Laborexperimenten und im Tiermodell wirken die Substanzen gegen ein breites Spektrum von multiresistenten Krankheitserregern. Ein vielversprechender Kandidat befindet sich in präklinischen Studien.
Professor Hiller, warum ist es so wichtig, neue Wirkstoffe gegen gram-negative Bakterien zu finden?
Es gibt eine Liste mit den sechs gefährlichsten resistenten Krankenhauskeimen, die sogenannten ESKAPE Pathogene. Vier davon sind gram-negativ und verursachen lebensbedrohliche Infektionen wie Lungenentzündungen und Blutvergiftungen. Es gibt zwar noch gewisse Reserveantibiotika gegen gram-negative Bakterien, doch sind in den letzten Jahren auch dagegen vermehrt Resistenzen aufgetreten. Manche Prognosen gehen davon aus, dass es weltweit in 20 oder 30 Jahren genauso viele Todesfälle durch resistente Bakterien geben wird wie durch Krebserkrankungen. Es besteht also ein grosser Handlungsbedarf.
Die letzte neue Antibiotikaklasse gegen gram-negative Bakterien wurde in den 1960er Jahren gefunden. Wo liegt das Problem?
Die Schwierigkeit ist grundsätzlich, überhaupt gute Angriffspunkte zu finden. Die Bakterien haben sich im Verlauf der Evolution über Jahrmillionen hinweg gegen Angriffe geschützt. Sie haben also nur wenige Schwachstellen.
Polyphor hat aber jetzt eine solche Schwachstelle gefunden. Wie wirken die neuen Substanzen?
Sie verhindern den Aufbau der äusseren Membran von gram-negativen Bakterien. Diese besteht aus Lipiden und etwa 80-100 verschiedenen Proteinen, die allesamt wichtige Aufgaben erfüllen, beispielsweise beim Stofftransport oder bei der Verteidigung gegen toxische Substanzen. Ohne die äussere Membran ist für die Bakterien Schluss. Sie können sich nicht mehr teilen, platzen auf und sind auch viel verletzlicher gegenüber dem Immunsystem von Patientinnen und Patienten.
Der Angriffspunkt für den neuen Wirkstoff ist ein Membranprotein namens BamA. Welche Funktion hat dieses Protein in den Bakterien?
BamA ist Teil des sogenannten BAM Komplexes, der in der äusseren Membran sitzt. Er hat die Aufgabe, Proteine aus dem Inneren der Bakterienzelle in Empfang zu nehmen, richtig zu falten und in die Membran einzubauen. BamA ist die wichtigste Komponente dieser Maschinerie. Experimente haben gezeigt, dass Bakterien ohne BamA nicht lebensfähig sind. Es ist also grundsätzlich eine sehr verwundbare Stelle der Bakterien und war deswegen auch schon lange im Fokus für die Entwicklung von neuen Antibiotika.
Ihr Beitrag zu diesem Projekt war, den genauen Wirkungsmechanismus zu untersuchen. Was haben Sie dabei herausgefunden?
Meine Forschungsgruppe untersucht schon seit fast 10 Jahren die Strukturbiologie des BAM Komplexes. Wir haben bereits gezeigt, dass BamA normalerweise in einer offenen und einer geschlossenen Form vorliegt. In der offenen Form empfängt BamA die Proteine, um sie dann zu falten und in die Membran einzubauen. Jetzt konnten wir nachweisen, dass der neue Wirkstoffkandidat dafür sorgt, dass sich BamA nicht mehr öffnen kann und im inaktiven geschlossenen Zustand bleibt. Das ist tödlich für das Bakterium.
Glauben Sie, dass in Zukunft noch weitere Wirkstoffe gegen BamA gefunden werden?
Die in der Publikation beschriebenen Substanzen sind die ersten bekannten Wirkstoffe, die den BAM Komplex angreifen, deswegen sprechen wir auch von einer neuen Wirkstoffklasse. Ich halte es aber für sehr gut möglich, dass man bald noch weitere Substanzen findet, die an BamA binden, sowohl synthetisch hergestellte als auch Naturstoffe.
Besteht nicht die Gefahr, dass sich auch gegen die neuen Antibiotika bald Resistenzen bilden?
Es wäre vermessen zu sagen, dass das nie passieren wird. Bei in vitro Experimenten wurden tatsächlich Resistenzen gefunden, allerdings war die Rate der Resistenzbildung viel langsamer als bei anderen Antibiotikaklassen. Wie Resistenzen in vivo entstehen, muss sich jedoch erst noch zeigen. Das Auftreten von Resistenzen kann sicher auch dadurch minimiert werden, dass die neuen Antibiotika vernünftig eingesetzt werden. Dafür braucht es allerdings ein gutes Public Health Management. Auch dieses Thema ist ja ein wichtiger Teilbereich des NFP 72.
Kurzbio
Sebastian Hiller ist Professor für Strukturbiologie am Biozentrum der Universität Basel. Mithilfe der Magnetresonanz-Spektroskopie (NMR) entschlüsselt er die Struktur und Funktion von Proteinen auf atomarer Ebene. Ein Fokus seiner Forschung im Rahmen des NFP 72 sind die Prozesse, die bei der Bildung der äusseren Membran von gram-negativen Bakterien ablaufen.